Vier konstruktiv-funktionale Aspekte des „Spiel & Spielens“

Erstens machen Sie mit Ihrem Gehirn, wann und wo auch immer Sie es zum Denken benutzen, nichts anderes als eben in Ihren Gedanken alle nur vorstellbaren Möglichkeiten zur Lösung eines Problems oder zum Erreichen eines Ziels oder zur Realisierung einer Absicht – durchzuspielen. Bevor Sie also Handeln, überlegen Sie erst einmal, wahrscheinlich sogar sehr sorgfältig, wie das, was Sie vorhaben, gehen könnte. Sie tun also zunächst noch nichts – jedenfalls dann, wenn Sie einigermaßen bei Verstand sind. Sondern Sie probieren gedanklich aus, was alles denkbar und dann vielleicht auch umsetzbar ist.

Genau dasselbe haben Sie auch schon als kleines Kind gemacht, wenn Sie damals in Mutters Küche alle möglichen Kochgeräte herausgeräumt und sich gefragt haben, was sich damit machen lässt. Weil Ihre Vorstellungskraft damals noch nicht ganz so gut entwickelt war wie heute, werden Sie das Mögliche nicht nur gedacht, sondern praktisch ausprobiert haben. Wenn Kinder so etwas tun, nennen wir das Spielen.

Was Sie also heute, wie alle denkenden Erwachsenen, machen, ist nichts anderes: Gedankenspiele. Herzlich Willkommen in der Welt, in der der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt. Schwer vorstellbar, dass Sie ein Leben ohne diese Gedankenspiele für erstrebenswert halten. Sie würden dann genau so reagieren wie irgendwelche Computer.
Die können, weil sie nicht in Gedanken spielen können, auch immer nur das hervorbringen, was ihnen jemand einprogrammiert hat.

Zweitens:
Das spielerische Ausprobieren dessen, was alles geht, ist nicht nur die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Sie sich selbst als denkendes Wesen erleben können. Es ist auch das, was unseren äffischen Vorfahren den Weg zur Menschwerdung ermöglich hat. Nichts von all dem, was im Verlauf dieses langen Prozesses erreicht worden ist, hätten Menschen erfinden, entdecken, bauen und nutzen können, wenn diese Fähigkeit in ihrem Gehirn nicht von Anfang an als Potenzial angelegt gewesen wäre. Zeugnisse dieses frühen Spielens finden wir noch heute in Höhlenzeichnungen, sie sind in den Mythen unserer Ahnen überliefert. Sogar so etwas Ähnliches wie das, was wir heute Bingo nennen, spielten die Chinesen schon vor 2000 Jahren.

Menschen spielen also, seit es Menschen gibt. Hätten sie das nicht getan, wären sie nie in der Lage gewesen, den gesamten Erdball zu bevölkern und all das zu erfinden und zu entdecken, was uns als Menschen heute so selbstverständlich geworden ist. Ohne die immer neue spielerische Erkundung unserer jeweiligen Möglichkeiten hätten wir Menschen uns gar nicht weiterentwickeln können. Dass wir die Herausforderungen einer sich ständig verändernden Lebenswelt überhaupt meistern, uns an neue Gelegenheiten anpassen, neue Möglichkeiten erschließen konnten – und nicht unterwegs ausgestorben sind –, verdanken wir unserer Fähigkeit zu spielen, also spielerisch ausprobieren zu können, was alles geht.

 

Drittens:
Das Spielen haben wir Menschen selbst gar nicht erfunden. Das machen auch schon die Tiere. Nicht alle, aber all jene, die mit einem lernfähigen, nicht durch genetische Programme fest verkabelten Gehirn zur Welt kommen. Krähenvögel, zum Beispiel, oder kleine Kätzchen und Hunde. Je lernfähiger ihr Gehirn ist, desto häufiger und desto intensiver spielen sie. Das Spiel ist also von Anfang an alles andere als eine nutzlose Beschäftigung zum Zeitvertreib. Es ermöglicht schon den Tieren und erst recht uns Menschen das Ausprobieren all dessen, was dem betreffenden Tier- oder Menschenkind möglich ist. Spielerisch finden sie heraus, was sie mit ihrem Körper, den Armen und Beinen, den Händen oder – im Fall der kleinen Kätzchen – mit dem Schwanz alles machen können.

Und später setzt sich dieser spielerische Erkundungsprozess des Möglichen in der Beziehung zu Eltern, Geschwistern und anderen Lebewesen fort. Bis jede und jeder herausgefunden hat, was alles geht und was nicht funktioniert. „Selbstorganisiertes, intrinsisch gesteuertes Lernen“ nennen das die Lernpsychologen und haben inzwischen verstanden, dass diese Art des Lernens entscheidend dafür ist, wie gut sich ein Tier- oder Menschenkind später in der Welt zurechtfindet. Und was ermöglicht dieses Lernen? Das Spiel. Und wann kann ein Kind all das nicht mehr selbst lernen? Wenn es ständig unterrichtet und frühgefördert wird, sodass ihm keine Zeit zum Spielen mehr bleibt.

Viertens:
Kreativität gäbe es auch nicht ohne die Möglichkeit des spielerischen Ausprobierens all dessen, was denkbar ist. Klar, einfach etwas weiterzudenken, was schon gedacht worden ist, können wir alle. Manche sogar besonders gut, wenn sie dazu gezwungen oder dafür belohnt werden. Aber dadurch, dass jemand nur das bereits vorhandene ergänzt, umbaut oder verbessert, kommt ja nichts wirklich Neues in die Welt. Da bleibt ein Fenster ein Fenster, auch wenn es nun eine Vakuum-Doppelverglasung und einen Plastikrahmen hat.

Die Engländer nennen so etwas „linear innovation“, also die bloße Verbesserung des Bestehenden. Wirklich interessant sind die sogenannten „breaktrough innovations“, also tatsächlich neue, kreative Lösungen. Die Entdeckung der Alpha-Helix-Struktur der DNA war so etwas, oder die Relativitätstheorie, oder der Düsenantrieb oder der Verbrennungsmotor. Und wenn man dann nachverfolgt, was es möglich gemacht hat, dass jemand so eine völlig neue, bisher noch nicht gedachte und für möglich gehaltene Lösung finden konnte, so stößt man immer auf das gleiche Phänomen: Die entscheidende Idee kam nicht am Schreibtisch und auch nicht kurz vor der Deadline oder der angedrohten Kündigung, sondern morgens, noch im Halbschlaf, oder nachmittags, beim Spaziergang, oder abends, unter der Dusche.

Also immer dann, wenn kein Druck herrschte, wenn im Hirn spielerisch mal das Eine, mal das Andere ausprobiert werden konnte, bis sich plötzlich etwas zu einem Bild zusammenfügte, das passte. Der Durchbruch in das Neue war dann ganz von allein entstanden, aus dem Spiel der Gedanken hervorgegangen.

So, wer nun noch immer davon überzeugt ist, es sei Unsinn, dem Ernst des Lebens spielerisch begegnen zu können, den kann ich nur um Entschuldigung bitten, dass ich sie oder ihn so lange aufgehalten habe. Aber ich bin ja noch nicht am Ende dieser kleinen Rede, es gibt ja noch etwas, was zum Spiel gehört und was manchem so übel aufstößt, wenn er dem Spielen etwas Positives abzugewinnen versucht: Überall, wo Menschen spielen, gibt es auch Spielverderber.
Nicht alles, was in unserer gegenwärtigen Welt als Spiel bezeichnet und vermarktet wird, ist ein Spiel. Wie alles, was wir Menschen erfinden, kann auch das Spiel missbraucht und für bestimmte Zwecke und zur Verfolgung bestimmter Absichten instrumentalisiert werden. Wenn das Kinder zu Hause beim Würfelspiel machen, nennt man sie Spielverderber. Wenn es heute bei dem, was wir Spiel nennen, um Aufstieg und Fall, um Sieg oder Niederlage, um ökonomische Interessen oder – wie beim Fußball oder den Olympischen „Spielen“ – um das Ansehen ganzer Völker und vor allem um Millionengewinne geht, handelt es sich nicht mehr um Spiel, dann hat jemand das Spiel zu bitterem Ernst, zu einem Geschäft gemacht. Der Umstand, dass sich solche Entwicklungen inzwischen auch bei einem Blick auf irgendeinen beliebigen Spielplatz erkennen lassen, macht deutlich, wie sehr es an der Zeit ist, dem Spiel seine ursprüngliche Bedeutung wieder zurückzuschenken.

Denn was die Kleinen dort treiben, ist ja letztlich nichts anderes als das, was die Großen, also wir selbst, aber auch die „Großen“ dieser Welt – von ... über Angela Merkel bis zu Wladimir Putin – ihnen tagtäglich vormachen: Machtspiele. Da geht es auch um das Ausprobieren dessen, was möglich ist – aber immer auf Kosten anderer. Die heißen dann Verlierer, und davon gibt es viel zu viele auf der Welt – auch hier bei uns.

Manche fügen sich in ihr Schicksal und spielen die Rolle als Opfer so gut sie es können. Manche begehren aber auch auf und verlangen, dass die Karten neu gemischt werden. In Griechenland zum Beispiel, oder in der Ukraine oder in Syrien. Und manche versuchen dann sogar dieses Geschehen, das längst kein Spiel mehr ist und auch nie eines war, mit Waffengewalt für sich zu entscheiden. Wenn unsere Machtspiele so entgleiten, wird es Zeit nachzudenken.

Denn: Spielen bedeutet einander zu begegnen. Wer im Spiel ist, hat Mitspieler und Gegenspieler, mit denen er in einer lebendigen Beziehung steht. Das aber heißt: Spieler benutzen und gebrauchen sich nicht, um irgendwelche Zwecke zu verfolgen oder Ziele zu erreichen, die außerhalb des Spieles liegen. Indem sie miteinander spielen, begegnen sie einander von Subjekt zu Subjekt oder, um es mit Martin Buber zu sagen, von Ich zu Du, nicht aber von Ich zu Es, indem sie sich wechselseitig in­strumentalisieren. Die Begegnung von Ich zu Du öffnet den Raum für Potenzialentfaltung. Buber sagte: Der Mensch wird am Du zum Ich. Eben das geschieht, wenn Menschen gemeinsam spielen.

Wer spielt, konsumiert nicht. Wer spielt, gebraucht nicht. Wer spielt, begegnet dem Anderen als einem echten Gegenüber. Deshalb hat das Spiel in einer von der instrumentellen Vernunft des Ökonomismus beherrschten Welt eine subversive Kraft. Spielen öffnet Räume unbedingter Sinnhaftigkeit, gerade weil kein Zweck dabei verfolgt und kein Nutzen avisiert wird.

Spielen öffnet Räume für Kreativität, genauer: für Co-Kreativität – im gemeinsamen Spiele können Möglichkeiten erprobt und Potenziale entfaltet werden. Spielen ermöglicht Entwicklung und Innovation. Spielplätze sind Landeplätze, auf denen das Neue in die Welt kommen kann.

Wenn wir zu Spielen aufhören, hören wir auf, das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erkunden. Und wer dem Leben nicht kundig begegnet, den erstickt es mit seinem Ernst. Das Leben ist kein Spiel, das erfahren wir jeden Tag am eigenen Leib und in aller Deutlichkeit. Anhand der täglichen Schreckensmeldungen aus aller Welt. Aber wenn wir nicht mehr spielen können, verlieren wir genau das, was uns als Menschen ausmacht.

Nun bin ich schon seit vielen Jahren als Hirnforscher unterwegs. Es gab eine Zeit, in der ich noch daran geglaubt habe, dass sich mit neuen Erkenntnissen über das serotonerge System oder Dopaminrezeptoren und was es im Hirn sonst noch herauszufinden gibt, etwas bewegen lässt. Inzwischen habe ich aber längst bemerkt, dass die entscheidenden Erkenntnisse, auch in der Hirnforschung, diejenigen sind, die eigentlich nur das bestätigen, was kluge Menschen schon immer gewusst haben.
Und deshalb darf ich Ihnen gerade hier in Weimar und in diesem Theater genau das ans Herz legen, was Friedrich Schiller in seinem Aufsatz über die „Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ so wunderbar herausgearbeitet hat: „Der Mensch ist nur dann Mensch, wenn er spielt“. Hinzuzufügen wäre angesichts der bisherigen Entwicklungen nur noch: aber mit etwas mehr Hirn, bitte.“

Gerald Hüther; Weimarer Reden, 08. März 2015


Destruktiv- dysfunktionale Aspekte des „Spiel & Spielens“

Eric Berne, Begründer der Transaktionsanalyse, hat bereits 1964 in seinem Buch „Games People Play“, zu deutsch: „Spiele der Erwachsenen - Psychologie der menschlichen Beziehungen“ auf die dynamisch-negativen Verhaltensmuster und damit die ungesunde Seite des Spiels & Spielens hingewiesen - im o.g. Sinne gesellen sich dann meist Machtansprüche und Machterfahrungen hinzu. So zum Beispiel:

  • warum vom Leben Enttäuschte ständig neue Ungerechtigkeiten herbeisehnen; sie spielen "Waim" ("Warum muß das immer mir passieren");
  • weshalb Ehemänner ihren Frauen statt eines Blumenstraußes als Liebeserklärung Magengeschwüre präsentieren; sie spielen "Du siehst, ich habe mein Äußerstes getan"
  • warum Frauen die von ihnen verführten Liebhaber hinterher wegen angeblicher Vergewaltigung anzeigen; sie spielen "Hilfe! Vergewaltigung!", die letzte Stufe des Spiels "Abblitzen lassen", zum Zwecke der Selbstbestätigung;
  • warum manche Kriminelle enttäuscht sind, wenn die Polizei sie nicht erwischt; sie spielen „R & G" ("Räuber und Gendarm"); wenn das Ding, das sie gedreht haben, ihrem Selbstgefühl nützen soll, muß es herauskommen;
  • warum manche Menschen auf Unzulänglichkeiten ihrer Mitmenschen (schlechtsitzende Krawatten, kleine Autos, veraltete Computer, etc.) herumhacken; sie spielen "Makel", um sich von eigenen Mängeln abzulenken.
  • Um Eric Bernes Spieltheorie zu verstehen, muss man sich kurz auf seine Auffassungen über den angestrebten Nutzen aus sozialen Verbindungen einlassen.

Ausgehend vom Kleinkind betrachtet Berne den Wunsch nach sogenannten „Streicheleinheiten (Strokes)“ das heißt Anerkennung, Annahme oder Akzeptanz, als Motor des positiven Lebens auch im Erwachsenenalter.
Er bezeichnet in Anlehnung an archaische Formen des sozialen Umgangs zwischen Mutter und Kind jede Anerkennung des Gegenübers als "Streicheln" und sagt, dass das Streben nach Anerkennung und positiver Annahme in sozialen Verbindungen der Menschen ein Streben nach eben dieser Anerkennung ist.
Sogar Auseinandersetzungen können als „Streicheleinheiten“ gewertet werden, weil es immer noch besser ist, kritisiert zu werden, als gar nicht beachtet zu werden.

Der SPIEGEL schrieb seinerzeit:

„Vom sinnentleerten Gruß-Zeremoniell auf den Bürohaus-Korridoren bis hin zum lebensprägenden Spiel des willentlich "Geprügelten" (Berne nennt es das "Mach mich fertig"-Spiel), vom "Was? Ihr Kind kann noch nicht laufen?"-Triumph junger Mütter bis hin zum alltäglichen Ehekrach mit anschließender Versöhnung sehen sich Menschen, so der Befund des amerikanischen Psychiaters, ihren Rollen-Ritualen unentrinnbar ausgesetzt. Einzige Ausnahme laut Berne: das "nicht Spiel-gebundene Intim-Erlebnis" zwischen Liebenden und Freunden.
Freilich, solche Stunden der Wahrheit sind rar. Und für jene, die dessen nicht oder nur zeitweise teilhaftig werden, sei das verwickelte Privat-Theater, so meint Berne, jedenfalls von großem Nutzen. Die Pseudo-Problematik ihrer Spiele sei noch am ehesten geeignet, die Jahre bis zum Tode mit Pseudoaktivität, Spannung und Dramatik anzufüllen.“

DER SPIEGEL 21/1967